Die 1920er Jahre: Anfänge einer Politikwissenschaft am Institut für Weltwirtschaft und Seeverkehr? 

von Sebastian Klauke und Alexander Wierzock 

Kiel im Umbruch
Die Unterzeichnung des Versailler Vertrages im Juli 1919 und die Beschränkung der Flotte bedeuteten für Kiel einen herben Einschnitt. Nach Kriegsende reduzierte sich die Einwohneranzahl von 243 000 auf etwa 200 000 Menschen. Erst allmählich erholten sich die Werften durch eine Produktionsumstellung auf Handelsschiffe. Neue Impulse gingen in dieser schweren Zeit von der Christian-Albrechts-Universität aus. Besonders das Institut für Weltwirtschaft und Seeverkehr (IfWuS) leistete einen Beitrag zur neuen gesellschaftlichen Rolle der Universitätsstadt Kiel.

Das Institut für Weltwirtschaft und Seeverkehr
Die Ursprünge des IfWuS sind im 1899 von Wilhelm Hasbach gegründeten Staatswissenschaftlichen Seminar zu suchen. Das Institut wurde als eigenständige Institution innerhalb der Rechts- und Staatswissenschaftlichen Fakultät im Februar 1914 eröffnet. Unter Bernhard Harms, dem Initiator und Organisator des Instituts, konnte das staatswissenschaftlich ausgerichtete IfWuS bald international anerkanntes Renommee erlangen. Sein modernes Lehrbetriebskonzept war hierbei von großer Bedeutung. Es ermöglichte den Studenten, sich intensiv mit den verschiedensten Disziplinen der Staatswissenschaften zu beschäftigen. Kleine Kurse sollten die wissenschaftliche Diskussion zwischen Dozenten und Studenten anregen. Ziel des Instituts war, den Studierenden neben wirtschaftswissenschaftlichen Grundlagen auch die Zusammenhänge der Weltwirtschaft nahezubringen und diese in all ihren Facetten zu erforschen. Das Institut war somit eine kombinierte Forschungs- und Lehranstalt.

Das Hauptgebäude des Instituts für Weltwirtschaft und Seeverkehr in den 1920er Jahren

Das Problem Gemeinschaft und Gesellschaft wird zum Kulturproblem der Zeit. Die zunehmende Vergesellschaftung der Menschen zerstört allen im Keime, d.h. in der Anlage der Menschen immer neu vorhandenen gemeinschaftlichen Lebenswillen. […] Überträgt man diesen Kampf auf das gesamte Leben der modernen Menschheit […] so erhebt sich die Frage nach der Lebensmöglichkeit der modernen Zivilisation und mit der von vorneherein allgemein zugegebenen Höherbewertung der gemeinschaftlichen Verbindung die Frage: Wie kann aus Gesellschaft wieder Gemeinschaft werden?“

Hermberg, Annemarie: Gemeinschaft und Gesellschaft als Ziel und als Weg. In: Ethos. Vierteljahrsschrift für Soziologie, Geschichts- und Kulturphilosophie. Bd. 1. Nr. 3 (1925/26), S.456-475. Hier: S. 460.

Der Beginn einer Kieler Politikwissenschaft?
Das breit angelegte Wissenschaftsverständnis am IfWuS ermöglichte die Entstehung eines sozialwissenschaftlichen Freiraums, den der Soziologe Ferdinand Tönnies und der Staatswissenschaftler Kurt Albert Gerlach auszufüllen wussten. In ihren Veranstaltungen versuchten sie gesellschaftspolitische Aspekte in den Vordergrund zu stellen. In der Folge übernahm Tönnies 1921 einen Posten als Lehrbeauftragter für Soziologie. So dokumentierte sich am Beispiels Kiel die erst in Ansätzen stehende Ausdifferenzierung der Staatswissenschaften in Wirtschafts- und Sozialwissenschaften. In diesem Sinne sprach Harms davon, dass „der Vertreter der wirtschaftlichen Staatswissenschaften immer noch ein wahres Mädchen für alles“ zu sein habe.


Nach und nach entstand ein Personenkreis von sozialwissenschaftlich interessierten Doktoranden der Staatswissenschaft am IfWuS. Hierzu gehörten unter anderem Rudolf Heberle, Annemarie und Paul Hermberg sowie Alfred Meusel. Sie beschäftigten sich zu Beginn der 1920er Jahre mit zeitgenössischen Fragen der organisierten Arbeiterbewegung verschiedener Länder und auch mit politischer Theorie. Häufig knüpften sie hierfür an die grundlegenden Kategorien der „Gemeinschaft und Gesellschaft” von Tönnies an.

nächster Artikel